- Kunststoffe: Eine Welt aus Plastik
- Kunststoffe: Eine Welt aus PlastikSelten gelingt es den Zeitgenossen zu begreifen, was das charakteristische Kennzeichen ihrer eigenen Epoche ist. Es ist immer schwer zu sehen, wohin die Reise wirklich geht. Als in den 20er-Jahren vielen bewusst wurde, dass das Kunststoffzeitalter längst begonnen hatte, wurde die Frage laut: Seit wann denn? Im Umfeld der ersten Firma, die vollsynthetische chemische Kunststoffe in den Handel brachte, kam der Slogan auf: Und Gott sprach: »Es werde Baekeland«, und alles ward Plastik. Dies stimmt zwar, aber eigentlich auch wieder nicht.Der Begriff Kunststoff ist noch jung. Er wurde erst 1911 bei der Gründung der Zeitschrift »Kunststoffe« für eine damals noch keineswegs eindeutig definierte Stoffgruppe im deutschen Sprachraum eingeführt. Die Vorgeschichte reicht sehr weit zurück. Eine frühe Rezeptur eines Kaseinkunstharzes, die bis jetzt älteste Beschreibung eines Duroplasten, findet sich in den Aufzeichnungen des Andechser Benediktinerpaters Wolfgang Seidel aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, die er von Bartholomäus Schobinger, dem damals bedeutendsten Handelsherrn der Schweiz und Freund von Paracelsus, erhalten hatte. Nach dieser muss man Käse kochen, zuletzt mit Salzlauge. Man erhält eine weißliche Masse, die man warm in Formen presst oder gießt: »Sobald sie aber kalt ist, so muss man es lassen, wie es ist, es lässt sich nicht biegen oder falten, es bricht wie ein Glas.« Am Ende des Rezepts wird hervorgehoben, dass man damit gegossene Tischplatten - zum Schutz von Intarsien, denn ohne Füllstoffe war die Masse durchsichtig -, Trinkgeschirre, kleine Büsten und Medaillons herstellen könne, »in summam, was man will«.Mit dem Niedergang des Ancien Régime in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts begann der Aufstieg des Bürgertums. Kompliziert geschnitzte Kleinmöbel des Adels in großer Stückzahl für bürgerliche Wohnungen nachzubauen war sehr teuer. So goss man solche Möbel aus Papiermaschee, was in erstaunlicher Qualität gelang. An sich wurde dieser Werkstoff schon seit dem 15. Jahrhundert für kleinere Objekte genutzt, denn es war einfacher, Schnitzwerk nicht zu schnitzen, sondern zu gießen. So gab es im 18. Jahrhundert in Rokokoschlössern zuweilen erstaunlich große Papiermaschee-Objekte wie etwa Volieren. Durch trickreiches Variieren der Bindemittel wie Gummi-, Leim- oder Tragantlösungen, durch Zusatz von Füllmitteln wie Gips und Farben sowie durch spezielle Oberflächenbehandlung war Papiermaschee kaum von hartem Holz zu unterscheiden und ein leicht gießbarer Rohstoff für die Möbelindustrie. Im Londoner Victoria and Albert Museum haben sich komplette Wohn- und Schlafzimmereinrichtungen erhalten. Selbst Bronzestatuen ließen sich imitieren.Mitte des 19. Jahrhunderts begann Elfenbein knapp zu werden. Die Mode der Elfenbeineinlegearbeiten in Ebenholzmöbeln schuf einen riesigen Bedarf, dem die Tierfänger offenbar nicht mehr zu genügen vermochten. 1845 fand Christian Schlönbein die Nitrierung der Cellulose, 1865 meldete Alexander Parkes ein erstes Patent für ein Kunstharz aus Nitrocellulose und Kampher an, das dann von den Brüdern J. W. und J. S. Hyatt sowie der amerikanischen Albany Billard Ball Co. zu »Celluloid« weiterentwickelt wurde. Eine Vielzahl von Farbzusätzen und Füllmassen bescherte dem Zelluloid einen einzigartigen Siegeszug. Modeschmuck, auch Kunstwerke, ja selbst Fälschungen asiatischer Statuen wurden aus Zelluloid gefertigt. Die große historische Bedeutung des Zelluloids aber lag bei Fotografie und Film. Lange blieb der Begriff Zelluloid so etwas wie ein Synonym für Hollywood.Vom Walosin zum BakelitDie Zahl der gewissermaßen halbsynthetischen Kunststoffe war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schon recht beachtlich. Der gewaltige Bedarf an Fischbein für Korsettstangen etwa hatte die Bestände der Bartenwale dezimiert, was zur Entwicklung des Walosins führte, eines Kunststoffs aus mit Hartgummi imprägniertem Peddigrohr. So war die Entwicklung der ersten Protokunststoffe eine Folge rücksichtsloser Ausbeutung der Natur. Dem entsprach auch die damalige Benennung: »Imitat- und Surrogatstoffe«. Aus Kautschuk, Schellack, Schwefel und gebrannter Magnesia fertigte man Balenit, der zu Gewehrkolben, Säbelscheiden, aber auch zu Schuhabsätzen verarbeitet wurde. Eingekochtes Rinderblut und Edelholzsägespäne wurden zu Kunstholz gepresst. Aus Hartgummi formte man Reliefs und Pseudoebenholzfurniere. 1897 entwickelten W. Krische und A. Spitteler ein Kunstharz aus Kasein und Formaldehyd, das erstaunlich vielseitige Galalith, mit beachtlichen Isoliereigenschaften und daher wertvoll für die damals noch junge Elektroindustrie.Der ganz große Durchbruch glückte dem in den USA arbeitenden belgischen Chemiker Leo Hendrik Baekeland, dem es 1905 gelang, eine schon 1872 von Adolph Baeyer gefundene Umsetzung von Phenol und Formaldehyd durch Hitze, Druck und Einsatz alkalischer Katalysatoren zur technischen Reife zu entwickeln. Am 13. Juli 1907 wurde das neue Produkt, der erste wirklich vollsynthetische Kunststoff, nach seinem Erfinder Bakelit getauft. 1910 folgte die Gründung der Bakelite GmbH und die erste großtechnische Produktion, die sich dank der Größe der aus Bakelit erstellten Gebrauchsgegenstände wie Telefonapparate, Gehäuse von Rundfunkempfängern - in Deutschland insbesondere die »Volksempfänger« - bald nachhaltig in das Bewusstsein der Verbraucher schob. Die Firma Bakelite konnte bald vermelden, dass ihr Material in über 40 verschiedenen Industrien eingesetzt wurde. Aber nicht wirklich jeder Anwendung war der volle Erfolg beschieden. Die größten je konstruierten Formen und Pressen wurden mit enormem technischem Aufwand für die Herstellung von Bakelitsärgen entwickelt. Allerdings waren diese, bedingt durch ihre Haltbarkeit, für Erdbestattungen ungeeignet, im Feuer der Krematorien fielen sie durch ein Übermaß an Rauch und Gestank auf.Plastik überall1877 hatten R. Fittig und P. Paul die Polymethacrylsäure gefunden. Doch erst 1901 vergab Hans von Pechmann die Polyacrylsäure und ihre Derivate als Dissertationsthema an Otto Röhm, der ihr sein ganzes späteres Lebenswerk weihte. 1928 nahm er die Produktion von Polymethacrylsäuremethylester unter der Bezeichnung »Plexiglas« auf, das sich für Flugzeugkanzeln ebenso eignete wie zusammen mit Stahl zur betont kühlen Bauhaus-Wohnkultur der 20er-Jahre.Noch hinkte die chemische Theorie hinter der technischen Entwicklung weit her. Dies änderte sich, als 1920 Hermann Staudinger die Theorie der Makromoleküle entwickelte, wofür er 1953 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Ab den 20er-Jahren gab es auf einmal eine Flut von technisch genutzten Polymeren: Polyvinylchlorid (PVC) und Polyethylen, um nur einige zu nennen. Die Forschungen zur Atombombe brachten als Nebenprodukt das Teflon. Der Wunsch, am Radarschirm nicht erkennbare Flugzeuge zu entwickeln, führte zu den Polyestern. 1946 verursachte die Einführung des Nylondamenstrumpfes in den USA eine Massenhysterie. Voraussetzung für die große Verbreitung der Kunststoffe waren billig verfügbares Erdöl und die starke Entwicklung der Petrochemie in den 50er- und 60er-Jahren.Angesichts des modernen Plastikmülls rümpfen heute viele die Nase über Kunststoffe, eine Antipathie, die aber offenbar jeder in dem Augenblick ablegt, in dem er ein Sportgeschäft betritt: Moderne Sportbekleidung und Sportgeräte sind ohne Kunststoffe nicht mehr vorstellbar. Und dies gilt aller Probleme mit der Beseitigung der Plastikabfälle zum Trotz für alle Lebensbereiche.Prof. Dr. Otto Krätz
Universal-Lexikon. 2012.